Notes on „Dreamland Extended“
von Steffen Greiner, erschienen in der Publikation zur Ausstellung DREAMLAND (EXTENDED) im Kunstschaufenster Wolfsburg (Oktober 2020 - Januar 2021)

Ludwig van Beethoven, Komponist der „Pastorale“ genannten Sinfonie, die er, so die Legende, ganz goeth‘esk dahindrapiert an einem Bach vor Wien schrieb, schreibt 1815: „Mein Dekret: nur im Lande bleiben. Wie leicht ist in jedem Flecken dieses erfüllt! Mein unglückseliges Gehör plagt mich hier nicht. Ist es doch, als ob jeder Baum zu mir spräche auf dem Lande: heilig, heilig! Im Walde Entzücken! Wer kann alles ausdrücken? Schlägt alles fehl, so bleibt das Land [...]. Leicht bei einem Bauern eine Wohnung gemietet, um die Zeit gewiß wohlfeil. Süße Stille des Waldes!“

Nicht nur in Sachen unglückseligen Gehörs treffen die Raver*innen des frühen 21. Jahrhunderts wohl auf den Genius: Die Stadt als Lebensbedingung und Privileg, aber von hier aus stets die Leute beneiden, die draußen bleiben mussten, das zieht sich als Grundmoment der bürgerlichen Klasse seit der Romantik durch das künstlerische Selbstverständnis. Zogen die Szenen zuerst den Beat aus den teerigen Heizungskellern in die lichten Wälder der brandenburgischen Sandböden, zogen schließlich in der aktuellen Pandemie die Szenen selbst in die Natur. Davon zeugt der eine Bruch in Jakob Zimmermanns Installation „Dreamland extended“, jener zwischen der ersten Version „Dreamland“ aus dem März 2020, dem Denkmal der Clubkultur, das „I want to break free“ ruft, und jener zweiten, dem Mahnmal der Pandemie, dessen Held*innen widerstandsfähige Blumen sind: Der Verlust der Nacht in der Stadt und Rückzug nach dort, wo Möglichkeitsräume auch am Tage zu blühen scheinen.

Die Flucht führt immer zurück. Natur ist einzig das Stehengelassene in der Schnitzarbeit menschlicher Weltaneignung. Die sanften Wiesentäler der Lausitz und die Ackersteppen der Lößbörde sind Rodungsflächen, die romantischen Wassergräben des Spreewalds entwässern eine unwirtliche Sumpflandschaft, um sie landwirtschaftlich nutzbar zu machen, die Fichtenwälder des Erzgebirges stehen dort, weil die eigentlich heimische Tanne ab dem 17. Jahrhundert dem Bergbau das Holz liefern mussten und einfach zu langsam nachwuchs.
 
Caspar David Friedrich malte, als er den deutschen Nationalismus mit der Natur kurzschloss, eigentlich Industriegebiete. Nicht nur der Holzindustrie, man erkennt die geschlossenen Nadelgehölze, die, was ‚Natur‘ zu nennen wäre, dort sicher nicht pflanzte. Nicht nur die Fischgründe, deren drohende Ausschöpfung schon im ausgehenden Mittelalter das Land mit einem Netz von Fischereiordnungen überzog. Selbst im sogenannten „Urwald“ des Vessertals im Thüringer Wald, unberührt von Forstwirtschaft seit Jahrzehnten, eine der isoliertesten Lagen der Republik, findet sich im Bett der Bäche Schlacke, auf den Wiesen Fundamentreste des mittelalterlichen Bergbaus.

„Ärgert es dich immer noch, dass es 300 mal so viele Abhandlungen über den deutschen Wald gibt wie über den deutschen Kolonialismus“, fragt in Olivia Wenzels Roman „1000 Serpentinen“ eine Stimme, schreit‘s in Versalien.

Und der Ärger wäre verständlich, weil diese Abhandlungen sicher nicht davon handeln, wie der deutsche Wald ja nun selbst Teil der Kolonialgeschichte ist: Wo im Hochmittelalter mit Gründerstädten das Land, durch das wir heute spazieren, erobert wurde, lag noch vor einem Jahrtausend ein geschlossener Teppich sommergrünen Laubwaldes, der erst einmal rabiat gerodet, verbaut und verköhlert werden musste, um es besiedelbar zu machen. Und wie dann die Christianisierung vom Westen und Süden aus in den slawischen Osten des heutigen Deutschlands geführt wurde nicht nur über Kreuzzüge, Belagerungen und gewaltsame Zwangstaufen, sondern auch gezielt über das Abholzen der heidnischen heiligen Haine (die dann das Material lieferten für die ersten christlichen Holzkirchen). Kurz: Der Mythos ‚deutscher Wald‘, da setzt man das ermordete Andere für das Eigene, eignet sich an, was man gerade noch erledigt hat.

Und da ist noch nicht einmal die Rede von der Abfolge der Sequenzen, mit der europäische Menschen seit Tausenden von Jahren Natur aktiv gemacht, verändert haben: Alle Tiere einmal durchprobiert, erfolgreiche Versuchsreihen – Kuh, Hund, Pferd – perfektioniert. Gleiches Spiel mit Gräsern und Bäumen, bald mit Bauplänen von Schiffen, dann Schiffrouten. Klaus Theweleit denkt das in seinem Buch „Warum Cortés wirklich siegte. Technologiegeschichte der eurasisch-amerikanischen Kolonialismen“ weiter: Der Einteilung der Natur in Sequenzen der Zucht folgt die Einteilung der Erde in Parzellen, der Sprache in Buchstaben, folgt der perspektivische Blick der Kartographie, der Bürokratisierung der Kolonien ... Gehirnsprünge, Stufen: Bis er europäische weiße Körper als hochgezüchtete Kriegsmaschinen findet, im 16. Jahrhundert nicht auffälliger als in der Gegenwart, wo er im Legospiel seiner Enkelkinder, ihrem räumlichen Schaffen, ausgefeilte koloniale Kulturtechniken erkennt.

Depression: Unlearning okay, aber – alles?

Theweleit 2020: „Frage heute: Was habe ich für eine Chance, Pazifist zu sein, wenn all die Kulturtechniken, durch die ich atme, wahrnehme, denke, produziere, durch die ich liebe und lebe, selber Gewalt sind; wenn meine Friedfertigkeit selber Gewalt einschließt; wenn meine Existenz als weißer Mitteleuropäer selbst eine Gewalttatsache ist; unabhängig davon, wie ich im einzelnen „handle“? […] Es geht um die kühle Einsicht von der partiellen Gewaltförmigkeit jener Kulturtechniken, die wir als die schönsten und friedlichsten unserer Zivilisation feiern, und als solche uns gern erhalten würden. Wir stehen hier an der zentralen Spaltungs-Stelle der tragenden Ideologie unserer Kultur. Auf der einen Seite: der Krieg, die Gewalt, das zerstörerische Potenzial unserer Technologien. Auf der anderen Seite: die schönen Künste, die Musik, die ‚Kultur‘; das Leben in schöner Gewaltlosigkeit. In schöner, scharfer Trennung der Sphären. Sie haben aber ein und diesselbe Grundlage. That‘s all there is.“

Assoziation: „I want to break free“, gesungen von einem in Ostfrika geborenen queeren Südasiaten mit zentralasiatischen Wurzeln und westeuropäischer Staatsbürgerschaft of color.

Assoziation: Jakob Zimmermanns Distelfalter, tot auf dem Gletscher: „Für mich ist der Distelfalter ein Symbol des anhaltenden Versuch des ‚Weiters‘, wie es Diedrich Diederichsen in ‚Sexbeat‘ beschreibt - auch wenn wir wissen, dass das eigentlich nicht mehr geht.“

Das ist der andere Bruch, den das Werk verhandelt – Utopien haben neue Bedeutungen gewonnen. Im vergangenen, einem stillstehenden Jahr voller politischer Bewegungen besonders, in den vorherigen deutete sich ihre Rückkehr aber schon mit Wucht an. Jetzt sind sie hier, aber sind so anders: War früher möglich, ein Schlaraffenland zu denken, eine positive Anders-Welt, erscheint heute nicht erst das So-Tun-Als-Ob einer Heilen Welt im Diesseits, sondern schon die Sehnsucht als Banalisierung realer Verstrickungen, also fast selbst schon rassistisch oder klassistisch. Es weiß nun der Wohlstand von den die Menschen zerstörenden Arbeitsbedingungen in Bangladesh, es weiß der Konsum von den Mensch und Umwelt zerstörenden Kobaltminen im Kongo. Es ist, als könnten die Utopien nicht mehr zurück in die Sorglosigkeit. „Dreamland Extended“, orientiert an einem Lied der Pet Shop Boy, „Dreamland“, 2019: Klassisches Nimmerland, ewiger Sommer, keine Sorgen, die Straße hin der Schlaf, ein Lied, wie es auch 1960 oder 1790 hätte erdacht werden können, scheinbar. Doch es ist eine Utopie nach dem Ende der Utopien: „You don‘t need a visa“, heißt es im Text, weil Geschichts- und Kontextlosigkeit sich dann doch auch nicht mehr verträgt mit Pop, selbst wenn er von Sehnsüchten handelt. Das „Dreamland“ der Pet Shop Boys, es weiß von seiner Abhängigkeit von der Realität, die ihre Ansprüche noch in den Träumen stellen könnte – wie die märkische Provinz eben nur für Berliner weiße Heten ruhigen Atem verspricht, und das auch nur, wenn sie ausblenden, welche Geschichte in der Erde steckt, unter Schicht und Schicht und Schicht.

Sequenzen: That‘s all there is. Zentral sind sie für Jakob Zimmermanns Werk, weil sie zentral sind für die elektronische Tanzmusik und also für das Nachtleben, das es besingt. Sie sind die Basis für dessen Freiheit. Die Sequenzierung der Welt ist aber, zumindest in Theweleitscher Lesart, auch die Basis für ihre Kolonialisierung. Wie können Versklavung und Emanzipation in ein und derselben Kulturtechnik stattfinden? Kann es einen emanzipativen Pop geben in den Denkmustern der Ausbeutung – oder, verzweifelter gefragt: Wie verweben sich Wiederholungen der Wiederholungen der Zucht und des Drills mit der Wiederholung der Wiederholung der Popkultur, den Loops, Samples, Beats? Also dasjenige, was Pop so exakt zu unterscheiden macht von Beethoven? Und den ihn umgegebenden Kult der Originalität, dem eine Verlachung des Schöpferischen zugunsten des Zitats, der Collage entgegengesetzt ist, weil darin auch ein Moment der Feier der Schwäche liegt? Worin läge also die Utopie des Pop in seiner ganz antifaschistischen Verachtung des Prometheischen, wenn das wirklich alles wäre?

These: Der stetig sich perfektionierende Kreislauf von Erziehung zum Fortschritt zur Erziehung versus der den Progress verweigernde Klon des Loops. Der immer schon ganz geboren wird, keiner Entwicklung bedarf, aber auch zu keiner Entwicklung fähig scheint. Also: Pop als Überwindung gar der Idee der Überwindung? Also: Ausgerechnet Pop als das, was das Diederichsensche ‚Weiter‘ unterbricht?

Und was hat das damit zu tun, dass es ‚eigentlich‘ keinen weißen Pop gibt?

Assoziation, alter Hut, Gianni Vattimo, 1994: „Wenn eine Abhandlung über die Postmoderne in der Philosophie nicht eine bloß rhapsodische Suche nach denjenigen Zügen der zeitgenössischen Philosophie sein will, die man in die Nähe dessen rücken kann, was sich auf anderen Gebieten […] dieses Namens bedient, dann sollte sie sich meines Erachtens von einem durch Heidegger in die Philosophie eingebrachten Begriff leiten lassen, nämlich dem der Verwindung. Heidegger benutzt das Wort Verwindung […] um etwas der Überwindung, also dem Überschreiten oder Übersteigen Analoges zu Bezeichnen, was sich davon aber insofern unterscheidet, als es weder von der dialektischen Aufhebung noch vom Hintersichlassen etwas an sich hat, wie es das Verhältnis zu einer Vergangenheit charakterisiert, die uns nichts mehr zu sagen hat. Es ist nun genau der Unterschied zwischen Verwindung und Überwindung, der uns helfen kann, das ‚post‘ der Postmoderne philosophisch zu bestimmen.“

Archäologie der Utopien, Ausgrabung unter dem Bewusstsein von Klimawandel und Transfeinlichkeit. Kopfschütteln heute: Hart, Vattimos selbst so genanntes, hypersympathisches ‚schwaches Denken‘ hochzuhalten gegen die Realität der Effizienz von Impfstoffspritzen als Marker von ausgerechnet ja doch ersehnter Überwindung. Rückkehr der körperlichen Realitäten aus dem Exil, in das Poststrukturalismus ff. sie so effizient hineinverführte. Traumatisch: Soviel Arbeit, die Diskurshaftigkeit der Körper zu erkennen, noch mehr, sie anzunehmen, den eigenen Körper zu hinterfragen als gegebene Entität, als Veränderbares, Gemachtes, Collagiertes neu zu leben, nur um ihn zurückkehren zu sehen jetzt, als Material, dem die Subjekte ausgeliefert sind, an einer Stelle, die gesellschaftlich bisher völlig unerobert war: Den Membranen des endoplasmatischen Retikulums der Zellen, an denen SARS-CoV-2 andocken kann. Trauerzeiten auch das.

Assoziation: Superspreader der allerersten HIV-Infektionswelle wohl, rekonstruiert man heute, im frühen 20. Jahrhundert – die Nadeln der intramuskulären Penicillin-Injektionen gegen Syphillis im Kongo. Die zu überwindende Krankheit von weißen Kolonialist*innen eingeschleppt, wurden immer wieder aufs neue viel zu viele Schwarzer Arbeiter*innen mit der immergleichen Spritzennadel behandelt. Seuche als Nebenprodukt von Heilung als Nebenprodukt von Kolonialismus als Nebenprodukt von Rassismus als Nebenprodukt von Ausbeutung der Natur als Nebenprodukt von Kapitalismus als Nebenprodukt von Gewächshäusern im königlichen Garten von Schloss Laeken in Brüssel. That‘s all there is. I want to break free.

Am Ende bleibt die Nacht.

Nein, wirklich, da sind wir wieder ganz am Anfang. Nicht der Schlaf, den die Pet Shop Boys besingen (auch wenn es kein Zufall sein wird, dass sie ihre Utopie nicht in den Tag denken, wenngleich die Sonne immer scheint), sondern das Vertrauen, dass die Grenze der europäischen Kriegsmaschinenkörper das planetarische Wechselspiel von Licht und Dunkel bleibt.

Ein Rest von Natur, unberührt, tatsächlich, der letzte. Enthoben selbst der Debatte um Konstruktion von Welt und Identitäten, scheint es tatsächlich eine Realität der Tageszeiten zu geben. Eine wirksame: Während dreiviertel Europa in gut tausend Jahren gerodet wurde, ist dem Fakt, dass es abends dunkel wird, noch nichts entgegengesetzt als ein paar funzelige Straßenlaternen, vielleicht Neonleisten, in der Unterführung und im Parkhaus. Es gibt Nachtschichten, aber es bleibt selbst im ausbeuterischsten Industriebetrieb eine gesondert zu entlohnende Extraleistung, nachts zu arbeiten. Und es gibt Nächte, in denen wir uns selbst dazu überwinden und nach denen wir nackt am Strand sitzen und auf eine goldene Insel starren, glücklich uns enthoben, trügerisch und wahr.

Wir werden nachts müde, wir wachen morgens auf. Dazwischen liegt ein Wunderland, vielleicht keines, das alles abstellt, was tagsüber Gesellschaft scheiße macht, aber doch eines, was ähnliche Lichtverhältnisse antizipiert wie jene die herrschen, wenn wir nicht mehr da wären. In denen glitzern kann, was sich sonst verbirgt, ein Anderes, das sich nicht ausbeuten und beliebig klassistisch-rassistisch-sexistisch modifizieren lässt. Zielgenau setzt Jakob Zimmermanns „Dreamland Extended“ als vielstimmige Feier des Nachtlebens also doch Hoffnung in eine last Frontier, eine Rest-Frontier. Und dass sie nicht durchbrochen wird. Zumindest nicht vom weißen ‚uns‘. ​​​​​​​

Steffen Greiner, geboren 1985, ist Kulturwissenschaftler, Journalist und Dozent. Er lebt in Berlin. Steffen Greiner leitete die Redaktion der Zeitschrift zur Gegenwartskultur »Die Epilog« und war Co-Autor des erzählenden Brief-Sachbuchs »Liebe, Körper, Wut & Nazis. Wie wir beschlossen, uns alles zu sagen« (Tropen, 2020). 2022 erschien seine Erkundung zur Geschichte der spirituellen Querfront in Deutschland zwischen Lebensreform, Weimar und Corona "Die Diktatur der Wahrheit. Eine Zeitreise zu den ersten Querdenkern", ebenfalls bei Tropen.​​​​​​​
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